4. Dezember

Kinder, die das Gesetz nicht kennen, sollen es auch
hören und lernen, den HERRN, euren Gott zu fürchten
alle Tage. 5. Mose 31,12

Im Kapitel, aus dem die heutige Losung stammt, findet ein
Generationenwechsel statt. Gott sagt, dass Mose jetzt alt
sei und den Jordan nicht überschreiten werde. Josua soll
sein Nachfolger werden. Dieser wird in sein Amt eingesetzt.
Dabei weist Mose auf das Gesetz hin. Er erwähnt speziell die
Unterweisung der Kinder. Die nächste Generation soll den
Gott des Lebens kennen lernen und mit ihm unterwegs sein.
Jeder Generationenwechsel ist wohl geprägt vom Wunsch,
dass die nächste Generation die Werte hochhält, die ihnen
von den Eltern mitgegeben werden.
Mir ging das so. Gleichzeitig habe ich gelernt, dass ich
den Weg der Kinder nicht vorzeichnen kann. Sie sollten frei
sein und ihren ganz eigenen Weg suchen. Das war vielleicht
auch zur Zeit von Mose und Josua so, denn es gehört zum
Leben, dass die jungen Menschen ihre Persönlichkeit entfalten
und auch andere Wege gehen als ihre Eltern. Mose
war wichtig, dass sie das Gesetz lernen. Das sehen wir heute
bestimmt anders. Wir sind mit den nächsten Generationen
im Gespräch und entdecken dabei immer wieder ihre eigenen
Persönlichkeiten. Wenn es gelingt, uns dabei am Gott
des Lebens zu orientieren, schenkt er Kraft für den Weg.
Begleite du die jungen Menschen auf ihrem Weg.

Von: Madeleine Strub-Jaccoud

3. Dezember

Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen,
der auf euch kommen wird. Apostelgeschichte 1,8

Der Vers des Lehrtextes geht noch weiter: «Ihr werdet meine
Zeugen sein in Jerusalem, in Judäa, in Samaria und bis ans
Ende der Welt.» So stark ist die Kraft des Geistes, der von
Gott, der Lebendigen, kommt. Er soll den Jünger:innen Kraft
schenken, Kraft, die Botschaft und das Leben, Sterben und
Auferstehen von Jesus weiterzutragen und dafür geradezustehen.
Diese Botschaft richtet sich auch heute an uns.
Sie kann sogar gesungen werden. Für mich wird sie immer
wieder zum Ohrwurm. Ich glaube, das ist gar nicht schlecht,
denn ich bekomme durch sie Kraft. Mich beschäftigt aber
auch, wie ich denn Zeugin sein kann. Der Vers ist ganz präzis:
Zeugin für Jesus, Zeugin, dass er den Tod überwunden
hat. Und sogleich stellt sich die Frage, wie ich das leben
kann in der Welt, wo die Werte der Menschen doch oft bei
materiellen Dingen sind und bei Technologien, die ich überhaupt
nicht verstehe. Und doch nehme ich wahr, dass junge
Menschen sich engagieren für das Leben, auch das Leben
der Menschen im globalen Süden. Aber eigentlich singe ich
den Ohrwurm in meinem Alltag und versuche, diesen so zu
gestalten, dass das Leben der Mitmenschen, das Leben der
Natur, das Leben der leidenden Menschen zentral ist.
Schenke du uns deinen Geist, der uns Kraft und Freude gibt.

Von: Madeleine Strub-Jaccoud

2. Dezember

Bekehre du mich, so will ich mich bekehren;
denn du, HERR, bist mein Gott! Jeremia 31,18

Wenn es ein Spital für verletzte und misshandelte Wörter
gäbe – die «Bekehrung» würde dort eingeliefert. Wahrscheinlich
läge sie im Zweierzimmer, zusammen mit der
«Mission». Wie oft wurde «Bekehrung» nach dem Gutdünken
von selbsternannten Gurus für zwielichtige Zwecke
missbraucht, wie oft wurde sie, umstellt von dunklen
Drohungen, nackt in die Welt hinausgeschickt. Die «Bekehrung
» leidet an «Missverständnitis», ausserdem ist sie krank
wegen des Grössenwahns und der Besserwisserei derer, die
sie sehr oft in den Mund nehmen oder in die Tasten hauen.
Jeremia, der Prophet und Kenner menschlicher Herzen,
beginnt mit wenigen Worten die notwendige Reha für das
grosse, aber oft geplagte Wort «Bekehrung». Es ist die Bitte
eines Menschen an Gott, aus menschlich auswegloser Situation
befreit zu werden. Es ist das Vertrauen darauf, dass Gott
einen Neuanfang ermöglichen kann, wo er nach menschlichen
Massstäben unmöglich scheint.
Die «Bekehrung» kann wieder Menschenherzen bewegen,
wenn der Leistungsdruck und das Appellieren an die
menschliche Entscheidung operativ und rückstandslos entfernt
sind. Sie kann wieder zu Kräften kommen, wenn heilsam
zwischen Gottes Zuwendung und narzisstischem Influencertum
unterschieden wird. Sie wird dann wieder um die
Welt reisen, mit ihrer Gefährtin seit alter Zeit, der Hoffnung.

Von: Dörte Gebhard

1. Dezember

Simeon sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener
in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine
Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil,
das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht
zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines
Volkes Israel. Lukas 2, 29–32

Simeon hatte zuvor auf diesen Trost Israels gewartet, so
sehr und so lange, dass es ausdrücklich überliefert wird. Er
muss ein echter Meister des Wartens gewesen sein, hat es
wohl früh gelernt und lange geübt. Aber ist das ein Leben,
wenn man nur wartet? Timo Reuter, Journalist und Autor,
ist ein später Nachfahre von Simeon und antwortet darauf
mit einem entschiedenen Ja. Nach eigenem Bekunden
wartet er gern, zum Beispiel auf Reisen, und findet, Warten
sei sogar eine Kunst, die wir heutzutage nur verlernt
haben. Er schreibt: «Dem Warten wohnt ein wenig beachtetes,
aber grosses Potenzial inne. Es ist eine vielfältige und
stille Kraft, die Übergänge schafft. Es verbindet uns mit dem
Leben – und als Schmiermittel sozialer Beziehungen auch
mit anderen Menschen.» Er beschreibt das Glück, das sich
in ungeplanten Zeitnischen einnistet, und die unfassbaren
Möglichkeiten, die aus Zwischenzeiten folgen. Simeon spürt
nun, dass seine Lebenszeit zugleich mit dem Warten zu Ende
geht. Aber alles hat sich für ihn erfüllt: Sein Warten war nicht
vergeblich. Seine Erwartungen wurden sogar übertroffen.
Vor allem aber hat er hoffnungsvoll gelebt. Was will man
also mehr? Wartezeiten!

Von: Dörte Gebhard

Mittelteil November / Dezember

Die Stiftung Boldern unter neuer Führung

Seit Ende April 2024 führen Bernhard Egg und Urs Häfliger
die Stiftung als Nachfolger von Madeleine Strub-Jaccoud im
Co-Präsidium. Im Folgenden berichten sie über ihre Erfahrungen
im Amt.

Schriftlich geführtes Interview mit Heidi Berner (HB):
HB: Seit anderthalb Jahren führt ihr beide die Stiftung Boldern
im Co-Präsidium. Hat sich diese Organisationsform
bewährt?

BE: Meines Erachtens verläuft die Zusammenarbeit prima.
Wir ergänzen uns sehr gut. Jeder bringt seinen Erfahrungshintergrund
und sein Beziehungsnetz ein.
UH: Wir beide bringen viel Lebens- und Führungserfahrung
mit, und unsere verschiedenen Kernkompetenzen dienen
der Stiftung. Das Co-Präsidium hat sich meines Erachtens
sehr bewährt.


HB: Boldern hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Seit
wann seid ihr dabei?

UH: Beruflich und gesellschaftlich bin ich seit zwanzig Jahren
in Männedorf aktiv. Dabei hatte ich immer wieder von
Boldern gehört. Vor bald neun Jahren wurde ich in den Vorstand
des Trägervereins Boldern gewählt (als Quästor), später
als Geschäftsleiter ad interim für drei Jahre und danach
als Vizepräsident des Trägervereins. In dieser Zeit gründeten
wir die Stiftung und erhielten die Steuerbefreiung für die
Stiftung und den Förderverein.
BE: Meine ersten Besuche auf Boldern fanden statt, als ich
noch ein junger Kirchenpfleger war. Danach hatte ich keine
enge Verbindung. Die nächsten Berührungspunkte ergaben
sich mit der Wahl in den Kirchenrat der Reformierten Landeskirche.
In dieser Funktion begleitete ich die Gründung
der Stiftung Boldern und wurde nach dem Rücktritt aus dem
Kirchenrat in den Stiftungsrat gewählt.

HB: Aus einem Leuchtturm der Erwachsenenbildung und der
Spiritualität sind ein Tagungsort, ein Hotel und ein Wohnquartier
samt Spielplatz und Weiher entstanden. Wo finden
wir den Spirit von Boldern heute?

UH: Der Leuchtturm Boldern ist weiterhin gut und wunderschön
sichtbar ob Männedorf. Heute ist aus dem «Boldern
von einst» ein «Boldern für alle» geworden – so fand
die 1.-August-Feier 2025 der Gemeinde Männedorf auf Boldern
statt. Das wunderbar gewachsene Fundament von über
siebzig Jahren Boldern ist unser Fundament für eine erfolgreiche
Zukunft im Sinn von Boldern.
BE: Wir müssen offen und ehrlich festhalten: Das «alte»
Boldern ist Geschichte. Aber zum Glück und dank sehr viel
Engagement der Gründungsmitglieder konnte das Areal in
eine Stiftung überführt werden. Und Boldern ist und bleibt
ein Kraftort. Ein Ausdruck davon ist neben den erwähnten
gestalterischen Massnahmen – Weiher und Spielplatz – die
Veranstaltungsreihe «Boldern inspiriert».


HB: Welchen Stellenwert haben die Bolderntexte für euch
beide?

BE: Ich bin seit gut einem Jahr Mitautor, und das macht mir
viel Freude. Ich lese die Texte nicht konsequent jeden Tag,
aber ich lese sie, und sie sprechen mir oft aus dem Herzen.
Einzelne berühren mich naturgemäss weniger.
UH: Die Bolderntexte sind ein interessantes Standbein von
Boldern – insbesondere in der Kommunikation, der Beziehungspflege
und der Gesellschaft. Ich würde mir wünschen,
dass noch vermehrt weitere Zielgruppen für die Bolderntexte
gewonnen werden könnten – zum Beispiel Jugendliche
und Familien. Ich selbst lese von Zeit zu Zeit belebende Texte
darin und danke allen Autorinnen und Autoren für ihr tolles
Engagement.


Von: Heidi Berner

30. November

Es wird keiner den andern noch ein Bruder den
andern lehren und sagen: «Erkenne den HERRN»,
denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein
und Gross, spricht der HERR. Jeremia 31,34

Erkennen ist ein zentraler Begriff dieses Losungstexts. «Yada»
im Hebräischen bedeutet sowohl Wissen als auch die intime
Vereinigung von Mann und Frau. Erkennen ist also ein klarer
Beziehungsbegriff. Den HERRN erkennen bedeutet damit,
in eine intime Beziehung zu Gott zu treten. Es ist also nicht
allein die Sicht auf all die Lehren und Leistungen Gottes,
sondern das Sich-Einlassen auf ihn gemeint, wie auf einen
geliebten Menschen.
Alle, Klein und Gross, die ganze menschliche Gemeinschaft
hat im neuen, von Gott gestifteten Bund (Jeremia 31,31) die
Chance, neu zu erkennen und sich neu zu verhalten. Die
Gemeinschaft des Neuen Bundes ist ein Neuanfang, bei dem
das Versagen und die Missetaten früherer Zeiten vergeben
sind. Gross und Klein: Erkennt den HERRN, begebt euch in
ein intimes Gemeinschaftsverhältnis zu Gott und seinen
Setzungen. Dies heisst sich einzulassen. Einlassen auf die
grosszügige Offerte eines Schuldenerlasses.
Ich muss gestehen, dass mir, im Angesicht von Vergangenheit
und Gegenwart, solch ein Angebot unglaublich
erscheint. Also: Lasst uns darauf einschlagen.

Von: Gert Rüppell

29. November

Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend.
Psalm 84,11

Man könnte meinen, der Psalmist übertreibe hier ganz
schön. Aber vielleicht geht es ihm hier nicht so sehr um eine
numerische Abwägung, sondern um eine Beziehungsfrage.
Tausend Tage, die er sonst verbringt, bringen ihm nicht das
Gefühl von Nähe zu Gott wie ein Tag im vordersten Vorhof,
also weit entfernt vom Allerheiligsten.
Gottes Nähe spüren, ersehnen. Kennen wir das? Wie geht
es mir, wenn ich mich im Gottesdienst meiner Gemeinde in
die «Vorhöfe» geistlicher Gemeinschaft mit Gott begebe?
Gelingt mir Nahsein? Manchmal hilft mir die Musik, in der
verschiedene Komponisten sich dieses Psalms angenommen
haben. So Schütz, Telemann, Brahms. Aber was der Psalmist
mit seinem Zahlenspiel ausdrücken will, kommt dort kaum
vor. Der Gottesdienst mag helfen, aber der Alltag? Viele
Tage laufen bei mir einfach so dahin. Wenige sind besonders
sinnerfüllt.
Ich lebe meinen Alltagstrott. Aus tausend Tagen
ist der eine Tag hervorgehoben, den ich in der Nähe Gottes,
im Wissen und im Handeln mit Gottes Inhalten und Werten
verbringe. Hier bringt mich mein Glaube in Gottes Vorhof.
Vor einiger Zeit war ich in Iona, jener Kirche, wo sich
seit vielen Jahren Menschen in Gottes Vorhof versammeln
und in Lob und Praxis üben. Das, was ich an Spiritualität,
Gemeinschaft und Nähe dort erlebte, entspricht vielleicht
dem Überschwang des Psalmisten.

Von: Gert Rüppell

28. November

Nathanael antwortete Jesus: Rabbi, du bist Gottes
Sohn, du bist der König von Israel! Johannes 1,49

Ja, auch wir ersehnen ihn sehr, den Gottessohn, den Messias,
der Frieden auf Erden schafft! Die übersteigerten Erwartungen
belasten ihn aber auch, den Sohn eines Gottes, der
eigentlich weder Bildnis noch Namen haben möchte. Er ist ja
der JHWH, der «Ich bin, der ich bin» oder der «Ich bin da».
Jesus selbst nennt ihn mehrfach Vater. Er sagt aber von sich
nicht, er sei ein oder der Sohn Gottes! Er benutzt den Ausdruck
Menschensohn. Zum Gottessohn machen ihn andere,
zum Beispiel Nathanael oder Paulus.
Ich kann auch (naiv?) fragen, weshalb Gott nur einen
Sohn habe. Und was ist mit den Töchtern? Sind, noch weiter
gedacht, nicht alle Menschen Kinder Gottes? Jesus wird
denn auch oft als Bruder oder Schwester bezeichnet. Das
knüpft an der Verwandtschaft und an der Beziehung auf
gleicher Ebene an, auch an geschwisterlicher Vertrautheit
und Freundschaft. Der Gottessohn ist für mich dagegen ein
gar grosses Wort. Wie kann ich zu keinem Geringeren als
dem Sohn Gottes eine vertraute Beziehung pflegen? Nicht
umsonst spricht die feministische Theologie nicht von Gott,
weil zu männlich geprägt, sondern von «der Lebendigen».
Da geht es nicht um Hierarchie und Titel von Gott Vater
und Sohn, sondern um die Spiritualität, die Kraft und die
Fähigkeit, dieses Leben im Vertrauen auf etwas Grösseres
auszuhalten und zu leben.
Welche Begriffe sprechen Sie an?

Von: Bernhard Egg

27. November

Als Petrus den starken Wind sah, erschrak er
und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!
Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und
ergriff ihn. Matthäus 14,30–31

Als ich vor einigen Jahren
vor der Entscheidung stand,
ein schwieriges Amt zu übernehmen,
versagten meine Beine ab und zu.
Ich knickte ein, sackte ab.
Das irritierte und ängstigte mich sehr.
Ich beriet mich mit vertrauten Menschen.
Sie ermutigten mich, es zu wagen.
Zudem entdeckte ich in der Wühlkiste
unserer Buchhandlung ein Bändchen
mit Segensworten und Psalmen.
Dort war ein Satz in einem Text
mit dem Titel «Gefährtenschaft» –
wie für mich formuliert:
«Er segne eure Aufbrüche, euern Mut,
eure Bereitschaft zum Risiko.»
Schliesslich traute ich mir die Aufgabe zu.
Und plötzlich konnte ich wieder
mit sicherem Schritt auftreten.
Dank der Unterstützung meiner Gefährten,
die mich weiterhin begleiteten.
Und dank der Wühlkiste …

Von: Heidi Berner

26. November

HERR, deine Ratschlüsse von alters her sind treu
und wahrhaftig. Jesaja 25,1

Es ist wertvoll und lobenswert,
Altes in Ehren zu halten.
Doch gelegentlich ist es
etwas aus der Zeit gefallen,
hat Staub angesetzt oder
ist spröd und brüchig geworden.
So tun wir gut daran,
unvoreingenommen zu prüfen,
ob das Alte noch etwas taugt
oder ob wir es besser entsorgen.
Zu allen Zeiten haben Menschen
erfahren, was hilft in Angst und Not,
sie haben gehofft, gebangt und
gedankt – in Glück und Freude.
Alle diese Erfahrungen haben sie
überliefert – von Mund zu Mund
oder in heiligen Schriften formuliert.
Es ist wertvoll, diese Vorräte
an Lebenserfahrungen in Ehren zu halten.
Einiges ist brüchig, taugt nicht mehr.
Bei anderem reicht es, den Staub,
der sich darauf angesammelt hat,
wegzupusten – damit die Wahrheit
wieder zum Vorschein kommt.

Von: Heidi Berner